Urlaubsansprüche verjähren erst dann, wenn der Arbeitgeber seine Beschäftigten auf den Urlaubsanspruch hingewiesen und zur Urlaubsnahme aufgefordert hat – so der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom gestrigen Tag (EuGH, Urt. v. 22. September 2022, Az. C-120/21). Damit liegt es in der Hand des Arbeitgebers die Verjährungsfrist von drei Jahren in Gang zu setzen und die Geltendmachung von erhöhten Urlaubsabgeltungsansprüchen nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu vermeiden. Wir beleuchten die Folgen des Urteils für die Praxis:

SACHVERHALT

Die Klägerin, vormals Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin in einer Kanzlei, klagte gegen ihren damaligen Arbeitgeber auf Abgeltung von 101 Urlaubstagen aus 2017 und den Vorjahren. Die Klägerin hatte wegen hohen Arbeitsaufwands den ihr zustehenden Urlaub nicht vollständig in Anspruch nehmen können. Der Beklagte hatte die Klägerin weder aufgefordert Urlaub zu nehmen noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen könne. Gegen die Klage verteidigte der Beklagte sich unter anderem mit dem Einwand der Verjährung. Nachdem das Arbeitsgericht Solingen die Klage in erster Instanz hinsichtlich der nach nationalem Recht verjährten Urlaubsansprüche abgelehnt hatte, gab das Landesarbeitsgericht Düsseldorf der Klägerin unter Beachtung unionsrechtlicher Vorgaben vollumfänglich Recht, weil der Beklagte die Klägerin nicht durch Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten in die Lage versetzt habe, den Urlaub zu nehmen. Das BAG legte dem EuGH auf die Revision des Arbeitgebers hin die Frage vor (BAG, EuGH-Vorlage vom 29. September 2020 – 9 AZR 266/20 (A)), ob das Unionsrecht die Verjährung des Urlaubsanspruchs nach Ablauf der regelmäßigen Verjährungsfrist gestattet, wenn der Arbeitgeber den Beschäftigten nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben.

DIE ENTSCHEIDUNG

Nach dem Entscheidungsvorschlag des Generalanwalts des EuGHs ist die gestrige Entscheidung des EuGHs keine Überraschung, sondern vielmehr Konsequenz der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten der Arbeitgeber im Urlaubsrecht. Das BAG hatte 2019 nach Entscheidung des EuGHs im Vorabentscheidungsverfahren festgestellt, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 3 und Satz 4 BUrlG) erlischt, wenn der Arbeitgeber den Beschäftigten zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Beschäftigte den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Dies resultiere daraus, dass der Arbeitgeber bei unionskonformer Auslegung des Bundesurlaubsgesetzes eine Mitwirkungsobliegenheit bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs habe. Seither wurde die Frage des (Zeitpunktes des) Erlöschens von Urlaubsansprüchen rege diskutiert.

Der EuGH stellte in seinem gestrigen Urteil fest, dass es zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führen würde und dem unionsrechtlich verfolgten Zweck des Gesundheitsschutzes des Beschäftigten zuwiderliefe, wenn sich der Arbeitgeber auf die Verjährung der Ansprüche des Beschäftigten berufen könne, ohne ihn tatsächlich in die Lage versetzt zu haben, diese Ansprüche wahrzunehmen. Das Bedürfnis nach Rechtssicherheit durch Verjährung von Ansprüchen ist nicht gerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber sich aufgrund seines eigenen Versäumnisses hinsichtlich der Aufforderungs- und Hinweispflicht solchen Ansprüchen gegenübergestellt sieht. Die Folge ist, dass Urlaubsansprüche nicht verfallen oder verjähren und damit jederzeit, spätestens bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses in Form eines Urlaubsabgeltungsanspruchs, geltend gemacht werden können, wenn der [...]

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