Mindestlohn auch für Bereitschaftszeit in 24 – Stunden Pflege: Läutet das BAG das Ende der privaten Pflege ein?

Von und am Juni 25, 2021

Ende 2019 belief sich die Anzahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland auf 4,13 Millionen und hat sich damit gegenüber dem Jahr 2000 verdoppelt. Der Pflegenotstand zwingt viele Menschen dazu, auf ausländische, in der Regel osteuropäische Pflegekräfte zurückzugreifen. Diese wohnen meistens direkt bei den pflegebedürftigen Menschen vor Ort oder im Haus. Sie sind rund um die Uhr erreichbar, was die Pflege auch meist fordert. Aber welcher Angehörige kann einen 24h Dienst bezahlen? Gängig war eine vertraglich vereinbarte Stundenanzahl zu bezahlen, die sich höchstens an der tatsächlichen Arbeitsleistung orientierte und damit keine Bezahlung für sog. Bereitschaftszeit vorsah. Nach einer aktuellen Entscheidung des BAG (Urt. v. 24. Juni 2021 – 5 AZR 5050/20 PM) können Pflegekräften jedoch auch für den Bereitschaftsdienst jedenfalls den gesetzlichen Mindestlohn verlangen. Die Entscheidung liegt nur als Pressemitteilung vor, hat es aber in sich und wird den Pflegenotstand wohlmöglich massiv verschlimmern. Zu den Hintergründen und Auswirkungen dieser Entscheidungen lesen hier:

Die Entscheidung der Instanz

So ganz groß war die Überraschung nicht. Bereits das LAG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 17. August 2020 – 21 Sa 1900/19) hatte entschieden, dass die Verpflichtung zur Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns auch ausländische Arbeitgeber betrifft, wenn sie Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden. Geklagt hatte eine bulgarische Pflegekraft, die geltend machte, über die arbeitsvertraglich vereinbarten 30 Wochenstunden hinaus rund um die Uhr gearbeitet oder zumindest in Bereitschaft gewesen zu sein. Für ihre Tätigkeit in ca. sieben Monaten verlangte sie statt der tatsächlich erhaltenen 6.680 EUR netto 42.636 EUR brutto. Das LAG entsprach der Klageforderung, stand aber vor dem Problem, schätzen zu müssen, wieviel die Klägerin tatsächlich gearbeitet hatte oder in Bereitschaft war. Es schätze die zu vergütende Zeit auf satte 21 Stunden pro Tag. Wer sich fragt, wie das arbeitszeitlich eigentlich funktionieren kann (Bereitschaftsdienst zählt nach dem Verständnis des BAG zur Arbeitszeit), dem antwortet § 18 Abs. 1 Nr. 3 ArbZG. Für häusliche Pflegekräfte gilt das ArbeitszeitG nicht, wobei die Zweifel lauter werden, ob das europarechtskonform ist. Hier ging es aber um die Vergütung, die jedenfalls in Höhe des Mindestlohns auch für Bereitschaftsdienstzeiten anfällt.

Die Entscheidung des BAG

Das BAG bestätigte grundsätzlich die Entscheidung des LAG: Für den Bereitschaftsdienst fällt der gesetzlichen Mindestlohn an, auch wenn die Arbeitnehmer aus dem Ausland entsandt werden. Dennoch verwies es die Sache zurück an das LAG Berlin-Brandenburg, das nach Ansicht des BAG hinsichtlich der Schätzung von 21 Stunden Bereitschaftsdienst pro Tag die gegenteiligen Aussagen des Arbeitgebers nicht ausreichend berücksichtigt hatte. Der betroffene Entsender aus Bulgarien wird darlegen müssen, dass in 24 Stunden ein großer Anteil nicht mindestens Bereitschaftsdienst war, was eine gewisse Herausforderung ist, wenn man gleichzeitig von der Pflegekraft erwartet, im Notfall zur Stelle zu sein.

Was heißt das?

Auch ohne die endgültige Entscheidung des LAG, die das Ergebnis des BAG kaum korrigieren kann, steht fest. Dieses Modell der privaten Pflege wird für Pflegebedürftige teuer bis unbezahlbar. Undurchführbar erscheint, einen Teil der Zeit als Rufbereitschaft auszugestalten, weil der Pflegekraft dann die Wahl des Aufenthaltsortes frei bleiben müsste. Das Modell steht vor dem Aus.

Man kann über den Mindestlohn denken was man will. Aber dieser Stelle könnte er sich zu einem ernsten gesellschaftlichen Problem entwickeln. Kein Arbeitnehmer kann in Vollzeit eine(n) Angehörige(n) pflegen. Wenn das die Konsequenz aus dem Urteil wird, wird sich der oft zitierte Gender Care Gap zementieren. Und niemand will, dass die betroffenen Familien in die Illegalität abgleiten, weil sie sich die Pflege Ihrer Angehörigen zu Hause nicht mehr anders leisten können. Solange Deutschland auf ausländische Pflegekräfte angewiesen ist, ist der Gesetzgeber gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, die dieses Modell weiterhin finanzierbar machen, etwa durch Ausnahmen vom Mindestlohn für Bereitschaftsdienste im häuslichen Bereich.

Christian Rolf
Dr. Christian Rolf berät nationale und internationale Unternehmen in allen Fragen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Dabei konzentriert er sich auf das Arbeits-, Zivil- und Wirtschaftsrecht, Vergütungs- und Sozialleistungssysteme sowie Compliance- und Datenschutzfragen. Darüber hinaus verfügt er über umfangreiche Erfahrung in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten im Zusammenhang mit M&A- und Private Equity-Transaktionen, Restrukturierungsszenarien und komplexen Geschäftsprozessen.


Ilva Woeste
Ilva Woeste berät und vertritt nationale und internationale Unternehmen und Führungskräfte in allen Bereichen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit sind die Begleitung von Kündigungsschutzstreitigkeiten und Restrukturierungen sowie die Gestaltung und Änderung von Arbeitsverträgen und speziellen Aufhebungsvereinbarungen. Während ihres Referendariats am Oberlandesgericht Düsseldorf sammelte Frau Woeste bereits Erfahrungen in einer internationalen Großkanzlei in Düsseldorf im Bereich Arbeitsrecht sowie in einer internationalen Kanzlei in London.

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