Betriebsbedingter Kündigung – Vermutungswirkung bei Insolvenz

Von und am September 20, 2023

In einer aktuellen Entscheidung hat das BAG festgestellt, dass die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO auch dann eingreift, wenn bis zu einem anvisierten Stilllegungszeitpunkt noch viel Zeit vergeht und für ein Unternehmen in der Zwischenzeit – anders als prognostiziert – doch ein Erwerber gefunden wird (BAG, Urteil vom 17. August 2023 – 6 AZR 56/23, PM). Denn im Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs muss sich die Betriebsänderung noch in der Planungsphase befinden, damit dem Betriebsrat entsprechend dem Zweck des § 111 BetrVG eine Einflussnahme auf die unternehmerische Entscheidung möglich ist.

1. SACHVERHALT

Der Entscheidung lag eine Klage eines seit 2011 bei der Insolvenzschuldnerin, einem Unternehmen der Stahlindustrie, angestellten Arbeitnehmers zu Grunde. Der Kläger wandte sich gegen eine von dem Insolvenzverwalter ausgesprochene Kündigung. Vor dem Hintergrund, dass keine annahmefähigen Kaufangebote für die Betriebe der Insolvenzschuldnerin vorgelegen hatten, hatte der Insolvenzverwalter mit dem bei der Insolvenzschuldnerin bestehenden Betriebsrat einen Interessenausgleich wegen einer geplanten Betriebsstillegung geschlossen. Der Interessenausgleich beinhaltete insgesamt drei verschiedenen Namenslisten, auf denen alle Beschäftigten der Insolvenzschuldnerin genannt waren. Der Kläger war auf der zweiten Liste namentlich geführt, die eine Beendigung der Arbeitsverhältnisse nach Ablauf eines Zeitraums für die Ausproduktion vorsah. Bei der Ausproduktion wird im insolventen Betrieb das noch vorhandene Potential (Know-how, Aufträge, Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe, Halbfertigwaren) im Rahmen der Abwicklung genutzt und im Interesse der Gläubiger wertschöpfend verwertet. Nach Unterzeichnung des Interessenausgleichs kündigte der Insolvenzverwalter daher das Arbeitsverhältnis des Klägers betriebsbedingt mit Schreiben vom 29. Juni 2020 mit Wirkung zum 31. Mai 2021. Im weiteren Verlauf wurden anschließend doch noch Teile des Betriebs der Insolvenzschuldnerin durch Kaufvertrag vom 22. Februar 222 an einen vormaligen Hauptkunden veräußert.

2. RECHTLICHER RAHMEN

Gem. § 111 Abs. 1 S. 1 BetrVG muss in Unternehmen mit in der Regel mehr als zwanzig wahlberechtigten Arbeitnehmern der Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge haben können, rechtzeitig und umfassend unterrichtet und die geplanten Betriebsänderungen mit dem Betriebsrat beraten werden. Dabei bedeutet rechtzeitig, dass die Unterrichtung und Beratung noch Einfluss auf die Gestaltung der Betriebsänderung nehmen können.

Über eine geplante Betriebsänderung soll gem. § 112 BetrVG zwischen den Betriebsparteien zudem ein Interessenausgleich geschlossen werden, der das „Ob“ und das „Wie“ der Betriebsänderung regelt. Der Betriebsrat kann den Abschluss eines Interessenausgleichs – anders als den eines Sozialplans – jedoch nicht erzwingen. Kommt ein solcher nicht zustande, können Beschäftigte allerdings ggf. individuell Nachteilsausgleichsansprüche geltend machen.

Im Rahmen eines solchen Interessenausgleichs können die Betriebsparteien unter anderem auch diejenigen Beschäftigten in einer Liste namentlich benennen, die bei der Durchführung der Betriebsänderung entlassen werden sollen. Eine solche Namensliste hat erhebliche individualrechtliche Bedeutung, indem durch sie die Betriebsbedingtheit der Kündigung nach § 1 Abs. 5 KSchG vermutet und der Prüfungsmaßstab bei der Sozialauswahl auf grobe Fehlerhaftigkeit beschränkt wird. Eine entsprechende Regelung sieht § 125 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 InsO auch für den Fall vor, dass im Zusammenhang mit einer Insolvenz eine Betriebsänderung geplant ist und ein Interessenausgleich mit Namensliste geschlossen wird.

3. ENTSCHEIDUNG

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm hatte in der Vorinstanz noch entschieden, dass die Kündigung nicht durch betriebsbedingte Gründe gerechtfertigt sei. Für die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO reiche nicht allein der Abschluss eines Interessenausgleichs, vielmehr müssten die objektiven Voraussetzungen einer Betriebsänderung vorliegen. Insofern sah die Kammer lediglich die Voraussetzungen für eine Betriebseinschränkung für eine Ausproduktion für den Zeitraum bis zum 31. Mai 2021 gegeben, die die Reduzierung im Rahmen der ersten Namensliste rechtfertige. Die Voraussetzungen für eine sich anschließende Betriebsstilllegung zur Rechtfertigung des Stellenabbaus der Arbeitsverhältnisse auf der zweiten Namensliste sollten hingegen nicht vorgelegen haben. Insofern wurde vor Abschluss des Interessenausgleichs im Gläubigerausschuss der Insolvenzschuldnerin lediglich festgestellt, dass derzeit kein annahmefähiges Angebot vorgelegen habe. Eine Betriebsstilllegung habe daher zum Zeitpunkt des Interessenausgleichs noch keine „greifbaren Formen“ angenommen.

Das BAG hat die Sache hingegen anders beurteilt. Es sei vom beklagten Insolvenzverwalter hinreichend dargelegt, dass eine Ausproduktion bis zum 31. Mai 2021 geplant sei und der Betrieb mit Ende der Ausproduktion stillgelegt werden sollte. Damit sei zum Zeitpunkt, in dem der Interessenausgleich abgeschlossen wurde, von einer dahingehend geplanten Betriebsänderung auszugehen, die die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO begründe. Diese Vermutung habe der Kläger nicht widerlegt. Der Umstand, dass Betriebe der Insolvenzschuldnerin nachträglich veräußert werden konnten – die geplante Betriebsänderung in Gestalt der Betriebsstillegung mithin tatsächlich nicht stattgefunden hat – lässt die Vermutungswirkung nicht entfallen.

4. KONSEQUENZEN

Die Entscheidung trägt zu mehr Rechts- und Planungssicherheit für Unternehmen bei. Auch wenn die Entscheidungsgründe des BAG bisher nicht vorliegen und eine abschließende Bewertung daher zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich ist, verdeutlicht das Urteil einmal mehr die Vorteile, die mit dem (an sich nicht zwingenden) Abschluss eines Interessenausgleichs einhergehen können. Unabhängig von dem Umstand, dass Betriebsänderungen ohne Interessenausgleich Nachteilsausgleichsansprüche für die einzelnen Beschäftigten begründen können, sollten Unternehmen – auch außerhalb einer Insolvenz – versuchen, Betriebsänderungen möglichst gemeinsam mit dem Betriebsrat durch Abschluss eines Interessenausgleichs umzusetzen. Insbesondre bei Personalabbaumaßnahmen ist die Vermutungswirkung eines Interessenausgleichs mit Namensliste für den erforderlich werdenden Ausspruch von arbeitgeberseitigen Kündigungen nicht zu unterschätzen.

 

 

Philipp Schäuble
Dr. Philipp Schäuble berät nationale und internationale Unternehmen u.a. aus dem Life Sciences-Bereich, der Automobilbranche, der Baubranche, der Personaldienstleisterbranche sowie dem Finanz- und Verlagswesen zu sämtlichen Fragen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts.


Lukas Deutzmann
Der Tätigkeitsschwerpunkt von Lukas Deutzmann liegt im Bereich Arbeitsrecht. Während seines Referendariats sammelte Herr Deutzmann Erfahrungen beim Landesarbeitsgericht Köln sowie beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Darüber hinaus war er als Referendar und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der arbeitsrechtlichen Abteilung einer international tätigen Kanzlei in Köln tätig. Zwischen 2016 und 2018 arbeitete Herr Deutzmann als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht der Universität zu Köln bei Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Preis.

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